Wir sind die Welle
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Welche Mittel sind im Protest gegen politische und gesellschaftliche Versäumnisse erlaubt? Was braucht es, um ein komplettes Umdenken einzuleiten? Diese brisanten Fragen umkreist die neue deutsche Netflix-Produktion „Wir sind die Welle“, in der eine Gruppe von Jugendlichen ein rebellisches Bündnis ins Leben ruft und langsam ins Chaos abdriftet. Grundlage der Dramaserie sind der Romanklassiker „Die Welle“ von 1981 und dessen gleichnamige Verfilmung aus dem Jahr 2007, die beide auf einem 1967 durchgeführten Sozialexperiment an einer kalifornischen Highschool fußen. Mit seinem Versuch wollte der Geschichtslehrer Ron Jones seinen Schülern die Verführungskraft nationalsozialistischer Ideen veranschaulichen. Da sich die Teilnehmer auf erschreckend leichte Weise für faschistische Gedanken begeistern ließen, brach er das Ganze allerdings vorzeitig ab.
„Wir sind die Welle“ greift das Motiv einer aus dem Ruder laufenden Bewegung auf, macht sich ansonsten aber von seiner Inspirationsquelle frei. Im Zentrum steht hier nicht die Bildung einer rechten Gemeinschaft, sondern ein Zusammenschluss links angehauchter Teenager, die die bestehenden Verhältnisse nicht länger akzeptieren wollen. Auslöser des Aufstands ist der geheimnisvolle Tristan, der eines Tages neu in die Oberstufe eines humanistischen Gymnasiums in der fiktiven Kleinstadt Meppersfeld kommt. Schon kurz nach seiner Ankunft legt er sich auf dem Schulhof mit einigen Nazi-Sympathisanten an. Und immer wieder springt er Schwächeren zur Seite, wenn sie drangsaliert werden. Besonderen Eindruck macht sein furchtloses Auftreten auf die behütete Lea, die plötzlich anfängt, ihr Wohlstandsleben zu hinterfragen. In den Bann zieht Tristan, bei dem es sich um einen Knastfreigänger handelt, auch den Libanesen Rahim, die als Freak verschriene Zazie und den schüchternen Hagen. Gemeinsam mit Lea und den drei Außenseitern gründet er kurz darauf eine radikale Bewegung namens „Die Welle“ und will die Gesellschaft fortan durch Protestaktionen aufrütteln. Den Kämpfern entgleitet jedoch recht schnell die Kontrolle über ihre Vereinigung.
Zu den Stärken der von Jan Berger, Dennis Gansel (Regisseur des Films „Die Welle“) und Peter Thorwarth entwickelten Serie gehört zweifellos der klug zusammengestellte Haupt-Cast. Luise Befort, Ludwig Simon, Mohamed Issa, Michelle Barthel und Daniel Friedl arbeiten das wachsende Gemeinschaftsgefühl in ihrem Spiel souverän heraus und wecken so das Interesse des Zuschauers für die Protagonisten. Ein Sonderlob gebührt Tristan-Darsteller Simon, ohne dessen rätselhaftes Charisma das Aufkommen der Bewegung nur schwer glaubhaft wäre. Anregend ist sicher auch das Bemühen der Macher, der Prämisse des Romans und des Films einen neuen Anstrich zu geben. „Wir sind die Welle“ befindet sich am Puls der Zeit, regt zu Diskussionen an und sensibilisiert für die Gefahren extremistischer Haltungen. Gewalt – das betont die Serie unmissverständlich – hat, aus welcher Richtung auch immer, keinerlei Berechtigung und führt nur dazu, dass sich die Fronten noch mehr verhärten.
Über das Anschneiden drängender Probleme darf man sich durchaus freuen. Wie die Netflix-Produktion ihren Plot aufbereitet und ihre Themen einbindet, ist allerdings schon ein wenig ärgerlich. Die holzschnittartige Figurenkonstellation und Leas arg schneller Sinneswandel lassen sich dank der guten Schauspieldarbietungen noch halbwegs verschmerzen. Für Irritationen sorgt aber spätestens ab Folge vier das schlingernde Verhalten der Nachwuchs-Revoluzzer. Nicht nur die irgendwann mobilisierten Welle-Unterstützer wirken wie kopflose Spaßrebellen. Auch die Ursprungsmitglieder handeln allesamt immer willkürlicher. Hinter ihren Taten scheinen keine echten politischen Überzeugungen zu stehen. Ein solches Bild wird der heutigen Jugend jedoch nicht gerecht. Das beweist allein ein Blick auf die „Fridays for Future“-Initiative, in der sich zahlreiche Heranwachsende mit einer klaren Agenda und ernst gemeinten Forderungen engagieren.
Dass der Unterhaltungswert ab der Hälfte schwindet, hängt mit generellen erzählerischen Nachlässigkeiten zusammen. Mehrfach werden denkbar plumpe Plattitüden in den Raum gestellt. Wie auf einer Checkliste arbeitet die Serie heiß debattierte Aspekte – etwa Umweltverschmutzung und den Aufschwung rechter Parteien – ab. Die eingestreuten Liebesgeschichten haben eine bremsende Wirkung. Der Erfolg der Welle im Internet gerät zu wenig in den Blick. Bei den Protestevents gehen die Rebellen teilweise irrwitzige Risiken ein. Glück und Zufall sind trotzdem ständige Begleiter. Gewiss ist es nicht verwerflich, wenn Autoren hier und da auf kleine Tricks und Vereinfachungen zurückgreifen. Ausarten sollte die Bequemlichkeit aber nicht. „Wir sind die Welle“ treibt es manchmal deutlich zu weit und bringt sich damit um einen überzeugenden Gesamteindruck.
Christopher Diekhaus
Weitere Angaben
Filmtyp: Farbe