Nach dem Urteil

Film: Nach dem Urteil
Länge:
94 Minuten
Altersempfehlung:
Ab 16 Jahren
FSK-Freigabe:
Ab 16 Jahren
Kinostart:
23.08.2018
Regie:
Xavier Legrand
Darsteller:
Léa Drucker (Miriam), Denis Ménochet (Antoine), Thomas Gioria (Julien), Mathilde Auneveux (Joséphine), Saadia Bentaïeb (Richterin) u.a.
Genre:
Drama , Thriller
Land:
Frankreich, 2017

Miriam Besson kann es nicht fassen, dass das Familiengericht ihrem geschiedenen Mann Antoine das „gängige Umgangsrecht“ mit dem gemeinsamen Sohn Julien zuspricht. Um ihren gewalttätigen Ex-Mann und Stalker zu entfliehen, ist sie extra mit den beiden Kindern Joséphine und Julien in eine andere Stadt gezogen. Nun hat Antoine seine Versetzung beantragt, ist der Familie gefolgt und plant sogar, das Sorgerecht für Julien einzuklagen. Alle drei befürchten, dass sie nun wieder von ihrer qualvollen Vergangenheit eingeholt werden. Zum Glück ist Joséphine bald volljährig und kann selbst darüber bestimmen, ob sie ihren Vater sehen will oder nicht. Der elfjährige Julien dagegen darf zwar seinen Wunsch in einer „Anhörung“ äußern, die Entscheidung selbst liegt aber beim Familiengericht. Obwohl der Junge in seinem Schreiben vehement Besuche beim Vater ablehnt, entscheidet die Richterin anders. Der „ausgezeichnete Teamleiter mit ausgewogenem Temperament“ – wie ihm sein Arbeitgeber bescheinigt – darf seinen Sohn alle 14 Tage für das Wochenende zu sich holen. Ein Entrinnen gibt es für Julien nicht. Voller Angst steigt er beim ersten Treffen in das Auto, schweigend fahren sie zu Antoines Eltern. Doch schon bald beginnt der Vater seinen Sohn auszufragen und ihm nachzuspionieren – auf der Suche nach Miriams Telefonnummer, nach ihrer neuen Adresse.

Mit dem Thema „Häusliche Gewalt“ hat sich der französische Schauspieler, Regisseur und Drehbuchautor Xavier Legrand vorher schon in seinem Oscar nominierten Kurzspielfilm „Avant que de tout Perdre“ auseinandergesetzt. Hier lernt der Zuschauer bereits die Familie Besson kennen. Nun hat Legrand dieser Geschichte sein Spielfilmdebüt gewidmet und einen ergreifenden Beziehungsthriller inszeniert, der von der ersten Sekunde an in den Bann zieht. Bereits im Vorspann wird der Zuschauer durch die kurzen Kameraeinstellungen und die Alltagsgeräusche im Gerichtsgebäude in Spannung versetzt, er fühlt, dass sich hier etwas Gefährliches anbahnt. Erst recht bei der Verhandlung selbst, bei der die geschiedenen Eheleute kaum zu Wort kommen, sondern die beiden Anwältinnen für ihre Klienten (oder eher für ihren Ruf?) kämpfen, ohne wirklich das Wohl des elfjährigen Julien im Blick zu haben. Als dann Antoine das erste Mal vor der Haustür steht, Miriam sich versteckt und Julian sich krank stellt, ist klar, dass hier in der Vergangenheit Schlimmes vorgefallen sein muss und vielleicht eine Katastrophe zu erwarten ist. Szene für Szene spürt man als Zuschauer förmlich, wie sich Angst anfühlt und wie sich die Schlinge langsam zuzieht. Dabei wird die Spannung nicht durch äußere Effekte erzeugt, sondern ergibt sich aus der Geschichte selbst – ganz unspektakulär und doch Gänsehaut erzeugend. Dazu trägt im Wesentlichen auch die grandiose schauspielerische Leistung von Léa Drucker (Das blaue Zimmer) als verhärmte, in sich zurückgezogene Miriam und von Denis Ménochet („Assassin’s Creed“, „7 Tage in Entebbe“) als übergriffigen, manipulierenden wie auch verzweifelten Antoine bei. Besonders aufwühlend ist aber das Spiel von Thomas Gioria, der für seine Rolle als Julien das erste Mal vor der Kamera stand. Er zeigt uns einen Jungen, der immer auf der Hut ist und dem Angst, Verunsicherung und Verzweiflung ins Gesicht geschrieben ist. Seine Schutzlosigkeit, hervorgerufen durch die Konflikte der Eltern, das Wegschauen in der Gesellschaft bzw. durch voreilige und unüberlegte Entscheidungen seitens der Behörden, wird lange im Gedächtnis bleiben.

Barbara Felsmann