Wir sind dann wohl die Angehörigen
Am Abend des 25. März 1996 wird Jan Philipp Reemtsma auf seinem Hamburger Grundstück überfallen und entführt. Als Sohn des Zigarettenfabrikanten Reemtsma gehört Jan Philipp zu den 150 reichsten Menschen in Deutschland. Erst nach 33 Tagen lassen ihn die Entführer gegen ein Lösegeld von 15 Millionen D-Mark sowie 12,5 Millionen Schweizer Franken wieder frei. Regisseur und Drehbuchautor Hans-Christian Schmid greift diese Geschichte auf, allerdings nicht um sie als Kriminalfall aufzublättern. Ihn interessiert allein die Sicht der Familie, also die von Reemtsmas Frau Ann Kathrin Scheerer und dessen 13-jährigem Sohn Johann. Und das ist mindestens genauso spannend wie ein Krimi!
Das erwartet dich in „Wir sind dann wohl die Angehörigen“:
Es gibt Streit in der Familie Reemtsma. Jan Philipp paukt mit Johann für eine Lateinarbeit und ist nicht zufrieden mit den Leistungen seines Sohnes. Hält Vorträge und will, dass er ein ganzes Buch des römischen Dichters Vergil durchliest. Dabei meint Johann, dass „er einfach nur ne Vier braucht“. Wütend werden Türen zugeschlagen. Am nächsten Morgen weckt ihn die Mutter. „Wir müssen jetzt gemeinsam ein Abenteuer bestehen“, sagt sie und erzählt, dass Jan Philipp entführt wurde. In die Villa ziehen zwei Polizisten mit den Decknamen „Vera“ und „Nickel“ ein, die Telefone werden abgehört und das gesamte Haus wird in ein Einsatzzentrum verwandelt. Außerdem ziehen der befreundete Rechtsanwalt Schwenn ein und Christian Schneider, ein Freund der Familie, mit dem sich Johann gut versteht. Klar, dass Johann das Haus nicht mehr verlassen darf. Es beginnt eine Zeit des Wartens auf ein Zeichen der Entführer, der Verzweiflung und der Panik. „Ich hab vorher nicht gewusst, was Angst ist und was sie mit dir macht“, wird sich Johann später an diese Zeit erinnern. Denn mit jedem Tag nimmt die Angst und die Sorge um den Vater zu, zumal eine Geldübergabe nach der anderen misslingt und Jan Philipp verzweifelte Briefe an Sohn und Frau schreibt. Immer mehr verliert Ann Kathrin Scheerer das Vertrauen in die Polizei, bis sie schließlich eine gewagte und nicht ungefährliche Entscheidung trifft.
Lohnt sich der Film für dich?
„Wir sind dann wohl die Angehörigen“ basiert auf dem gleichnamigen autobiografischen Buch von Johann Scheerer, das 2018 erschienen ist. Doch Hans-Christian Schmid und sein Co-Autor Michael Gutmann haben die Erinnerungen des damals 13-Jährigen erweitert durch die Sicht der Mutter und all der anderen Anwesenden in der Reemtsma-Villa, die 33 Tage lang um das Leben von Jan Philipp gebangt haben. Im Mittelpunkt aber stehen Johanns Gefühle – seine anfängliche Fassungslosigkeit, sein schlechtes Gewissen dem Vater gegenüber, mit dem er sich einen Abend zuvor noch gestritten hat, seine Angst und seine Verzweiflung, nachdem er den Ernst der Lage begriffen hat. Aber auch seine Ohnmacht wird gezeigt angesichts der wenigen Informationen, die ihm die Erwachsenen zukommen lassen, und seine Wutausbrüche, die Christian Schneider immer weniger ertragen kann. Dieses Wechselbad der Gefühle geht sehr nahe, wie auch die Hochs und Tiefs, die Johanns Mutter und Rechtsanwalt Schwenn, dessen Geldübergabeaktion scheitert, durchmachen. Der Perspektivwechsel von der spektakulären Entführung und den Tätern weg und hin zu den Angehörigen ist ein total spannender Ansatz, der mitreißt und Kriminalfälle mit anderen Augen betrachten lässt.
Barbara Felsmann
Weitere Angaben
Filmtyp: Farbe