Warum ich euch nicht in die Augen schauen kann
Als er fünf Jahre alt war, wurde bei Naoki Higashida eine Autismus-Spektrum-Störung festgestellt. Dass von Spektrum die Rede ist, liegt daran, dass es nicht eine Form von Autismus gibt, sondern sich dieser ganz unterschiedlich äußern kann. Bei Naoki ist es zum Beispiel so, dass er sich sprachlich nicht ausdrücken kann. Er lernte aber, sich mit einer Alphabettafel mitzuteilen, schrieb schon früh Gedichte und Kurzgeschichten, später Bücher. Regisseur Jerry Rothwell ließ sich für seinen Dokumentarfilm von Naokis erstem Buch inspirieren, das inzwischen in mehr als 30 Sprachen übersetzt wurde.
Was dich in „Warum ich euch nicht in die Augen schauen kann“ erwartet:
Mit 13 Jahren schrieb Naoki Higashida „The Reason I Jump‟. Darin beschreibt er, wie schwer es für ihn war, sich mit anderen Menschen auszutauschen. Um verständlich zu machen, wie er mit seiner Form des Autismus die Welt wahrnimmt, unterhält sich Naoki in seinem Buch gewissermaßen mit einer erfundenen Person. Es werden also immer wieder Fragen wie „Warum guckst du uns nicht in die Augen?‟ gestellt, auf die er Antworten gibt. Wenn wir in Jerry Rothwells Film sehen, wie ein stummer Junge durch Landschaften streift, kann dieser als Verkörperung von Naoki gedeutet werden. Dafür spricht auch, dass eine Stimme aus dem Off dazu Auszüge aus Naokis Buch vorträgt. Genau diese Abschnitte verbinet Rothwell mit Porträts von fünf jungen Autist*innen aus vier Kontinenten. Gemeinsam ist diesen, dass sie mündlich so gut wie nicht kommunizieren können. Stattdessen drücken sie sich anders aus, jede Person auf ihre Art.
Wir lernen zum Beispiel Joss kennen, dem es schwer fällt, seine Wutausbrüche im Zaum zu halten. Er tobt sich gern auf dem Trampolin aus und liebt es, brummenden Stromverteilerkästen zuzuhören, die er aus weiter Ferne orten kann. Dagegen beobachet Jestina gerne und oft Tiere. Sie leidet allerdings auch unter Vorurteilen und Ausgrenzung. So mus sich ihre Mutter Mary zum Beispiel von Nachbar*innen anhören, dass Jestina „vom Teufel besessen“ sei.
Warum dieser Dokumentarfilm so sehenswert ist:
Rothwell kombiniert einzelne Stationen aus den Lebensgeschichten seiner Protagonist*innen zu einer geschmeidigen Montage. Mit einer phantasievollen Bildsprache aus Detailaufnahmen, Sound-Collagen, Lichteffekten und Assoziationen versucht er, für ihre Sinneseindrücke Entsprechungen in Bild und Ton zu finden. Er übersetzt also quasi ihre Wahrnehmung für anders Wahrnehmende. Dabei lehnt er sich an Naokis Erlebniswelt an: Dieser, so erfahren wir es in seinem Buch, erfasst nämlich zunächst nur die Details und erst danach das Gesamtbild. Stück für Stück setzt er sich so die Welt zusammen, wie bei einem Puzzle. Zugleich arbeitet der mehrfach ausgezeichnete Film aber auch anschaulich heraus, wie sich die Erfahrungswelten der jungen Protagonist*innen ähneln und wie stark diese unter Unverständnis und Ausgrenzung leiden. Ganz nebenbei macht sich „Warum ich euch nicht in die Augen schauen kann‟ stark für Toleranz und Anteilnahme.
Reinhard Kleber
Weitere Angaben
Filmtyp: Farbe