Verlorene
Die 18jährige Maria ist ernst, macht sich wenig aus Mode und Jugendkultur, kann sich beim Orgelspielen völlig in der Musik von Bach verlieren. Ihre jüngere Schwester Hannah färbt ihre Haare bunt, trägt heimlich sexy Kleidung, wenn sie sich mit ihren Freundinnen trifft, probiert Drogen aus und klebt an ihrem Smartphone. Die beiden Schwestern könnten unterschiedlicher nicht sein, doch Hannah ist an Marias Seite und ermutigt sie, als sie sich am Musikkonservatorium bewirbt. Hannah sieht darin die Möglichkeit für Maria, die Enge in ihrem Heimatdorf in Baden zu verlassen. Sie selbst hat auch große Sehnsucht danach auszubrechen. Nach dem frühen Tod der Mutter leben Maria und Hannah allein mit ihrem Vater Johann. Valentin, ein junger Zimmermann auf der Walz, sorgt für Abwechslung im Haushalt. Er beginnt sich für Maria zu interessieren und die sich für ihn. Eine erste Liebe. Doch Hannah beobachtet noch etwas anderes an ihrer Schwester. Maria verletzt sich heimlich selbst. Bald weiß Hannah auch warum: Ihr eigener Vater schläft mit Maria. Hannah möchte der Schwester helfen, doch die blockt ab. Sie will die Verhältnisse nicht aus dem Lot bringen.
Zwei junge, sehr unterschiedliche Frauen stehen vor der Entscheidung, sich aus dem Vertrauten, der Familie zu lösen. Zu Beginn könnte man fast denken, „Verlorene“ erzähle eine Coming-Of-Age-Geschichte. Und ein Stück weit tut der Film dies tatsächlich. Doch zugleich ist das mehrfach preisgekrönte Kinodebüt von Felix Hassenfratz ein Heimatfilm, der das Leben in der Enge der Provinz ins Auge nimmt, und ein Familiendrama von hoher Ernsthaftigkeit. Sexuelle Übergriffe finden häufig in der eigenen Familie statt. Mit der jüngeren Schwester Hannah erlebt man mit, wie Maria dies passiert. Wie es Teil ihres Lebens ist, das sie nicht in Frage stellt. Und wie durch ihre Gefühle für Valentin, die Möglichkeit, für das Studium am Konservatorium den Ort zu verlassen, und durch den Einsatz von Hannah für sie die Dinge ins Wanken geraten. Und sie diese Unruhe gar nicht unbedingt will. So düster die Geschichte in ihren Grundkoordinaten ist, so prägnant Dorfleben und Bach'sche Kirchenmusik wirken, gelingt „Verlorene“ das Kunststück, nicht nur schwer oder symbolbeladen daherzukommen. Maria Dragus und Anna Bachmann geben den beiden Schwestern in all ihrer Verschiedenheit eine großartige Verbundenheit. Felix Hassenfratz begleitet seine Figuren mit großem Einfühlungsvermögen, ist nah an ihnen dran, verschließt die Augen vor den drastischen Momenten nicht, stellt sie aber auch nicht effekthascherisch aus. „Verlorene“ ist kein bunter Film, doch immer wieder sind die Situationen in Licht getaucht, geben Luft zum Atmen. Es entstehen wunderbar poetische Momente, etwa wenn Valentin Maria ermuntert, die Orgel von innen zu erkunden.
Kirsten Loose
Weitere Angaben
Filmtyp: Farbe
Sprachen: Deutsch, Schwäbisch
Untertitel: Deutsch