The Tribe

Wenn sich Gehörlose untereinander mithilfe der Zeichensprache verständigen, hat das immer etwas Anrührendes und Faszinierendes an sich, zumindest für diejenigen, die nicht taubstumm sind. Daher ist dem jungen gehörlosen Sergey ein Mindestmaß an Empathie sicher, als er sich in einer fremden Stadt den Weg zu einem Internat für Gehörlose „erfragt“, das von nun an sein neues Zuhause werden soll. Von gegenseitiger Rücksichtnahme unter den gehandicapten Schülern und seitens der betreuenden Lehrer ist dort allerdings nichts zu spüren, ganz im Gegenteil. Mit brutaler Gewalt dominiert eine kleine Gang von älteren Schülern die anderen, was umso bedrückender wirkt, weil die Ausübung der Macht völlig ohne Worte, also stumm erfolgt. Mit Raubzügen, Hehlerei und Prostitution verdienen sich die Jugendlichen ihr Geld, wobei die Mitschülerinnen gezwungen werden, auf den Strich zu gehen. Wenn Sergey in dieser geschlossenen Gesellschaft nicht untergehen will, muss er sich den Regeln der Gang beugen und schon bald wird er selbst zum Zuhälter. Als er sich jedoch in Anna verliebt, die ebenfalls zur Prostitution gezwungen wird, verstößt er gegen die strengen Regeln der Gang und kann seiner harten Bestrafung nicht entgehen.
Der Debütfilm des ukrainischen Regisseurs Miroslav Slaboshpitsky nimmt das Subgenre des Internats- und Coming-of-Age-Films nur als äußeres Handlungsgerüst für eine Parabel über die gegenwärtige ukrainische Gesellschaft, die von Gewalt, Unterdrückung und Erbarmungslosigkeit geprägt scheint und in der nicht allein auf den eigenen Vorteil bedachte Liebe kaum noch einen Platz findet. Bekanntlich ist gerade die Sprache ein Machtmittel erster Klasse, wobei das gesprochene Wort leicht über die Machtverhältnisse hinwegtäuscht, weil man sich zu sehr auf die Inhalte konzentriert. In diesem Film wird mehr als zwei Stunden lang kein Wort gesprochen, die Gehörlosen verständigen sich ausschließlich mit Zeichen- und Körpersprache untereinander und bilden insofern eine eingeschworene Gemeinschaft, die den Betrachter außen vor lässt und ihn bis zum schockierenden Ende auch emotional auf Distanz hält. Als Zuschauer hört man im Unterschied zu den Protagonisten zwar alle Umgebungsgeräusche, aber was kommuniziert wird, muss man selbst herausfinden oder zumindest erahnen. Diese Reduktion, die allein schon durch den Handlungsort gegeben ist, zwingt zu erhöhter Aufmerksamkeit und lässt die Strukturen dieser Gewalt, die unausweichlich zur Gegengewalt führt, deutlicher hervortreten, als es jeder Dialogfilm vermag. Gleichwohl sind „sex, crime and action“ die Ingredienzen dieses bemerkenswerten Arthouse-Krimis, der dem Zuschauer allerdings viel Geduld abverlangt und ihn am Ende verstört zurücklässt.
DVD Extras: Booklet, Behind the Scenes, Kurzfilme, Trailer
Holger Twele
Weitere Angaben
Filmtyp: Farbe
DVD-Bildformat: 1:2,35/16:9
Anbieter
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