Somewhere Boy (Staffel 1)
Was bedeutet es, keinen Kontakt zu anderen Menschen zu haben? Die Welt für einen durchweg finsteren Ort zu halten? Das Wissen über „das Draußen“ bloß aus Filmen, Liedern und Erzählungen zu beziehen? Und wie groß muss der Schock sein, wenn der eigene, von allem abgeschirmte Kosmos auf einmal zerfällt? Wie krass die Konfrontation mit der angeblich so bösen Außenwelt? Fragen wie diesen spürt die britischen Dramaserie „Somewhere Boy“ in acht Folgen auf beklemmend-aufwühlende Weise nach.
Wovon die Serie „Somewhere Boy“ handelt:
Sonnenstrahlen genießen, frische Luft einatmen, sich ins menschliche Gewusel stürzen – all das kennt Danny nicht. Nach dem Unfalltod seiner Mutter wächst er in völliger Isolation auf. Genauer: in einem abgedunkelten Haus mitten im Nirgendwo, immer unter der strengen Aufsicht seines Vaters Steve. Draußen würden überall Monster lauern, bläut ihm dieser mit Nachdruck ein. Steve selbst verlässt das Haus nur zum Essenholen und hat stets eine Waffe dabei. Die Zeit vertreibt sich Danny vor allem mit alten Filmen und Schallplatten. Doch je größer er wird, umso mehr wächst die Neugier auf das, was jenseits der Türschwelle liegen mag. Als Steve plötzlich stirbt, kommt der inzwischen 18-jährige Danny bei seiner Tante Sue und ihrer Patchworkfamilie unter. Wenig begeistert ist darüber zunächst sein etwa gleichaltriger Cousin Aaron. Danny wiederum versucht, sich an das neue Leben zu gewöhnen. Allerdings lässt ihn seine Vergangenheit noch lange nicht los ...
Warum die Serie „Somewhere Boy“ unter die Haut geht:
Bereits in der ersten Folge steht Dannys Leben Kopf. Viele, zu viele neue Eindrücke, die er einfach nicht verarbeiten kann. Teilweise klammert sich der junge Mann verzweifelt an seine alten Erfahrungen, weil er mit der Situation völlig überfordert ist. Pornovideos? Danny weiß nichts damit anzufangen. Und als ihn einmal irgendetwas aufscheucht, rennt er aus Versehen ins Haus der Nachbarin, versteckt sich unter ihrer Bettdecke. Albträume und Visionen von einem schemenhaften Monster, das er schon als kleines Kind wahrgenommen hat, sind ständige Begleiter, ziehen so manche Panikattacke nach sich. Parallel zu Dannys Reise beleuchtet Serienschöpfer Pete Jackson auch, was sein Auftauchen mit Sues Familie macht. Während die Tante alles für ihren Neffen tun möchte, sich dabei aber häufig etwas ungeschickt anstellt, ist Aaron hin- und hergerissen. Einerseits baut er ein freundschaftliches Verhältnis zu Danny auf. Andererseits wird ihm seine eigene Verlorenheit immer klarer.
Wie in einer Trauma-Geschichte üblich wechseln wir ständig zwischen der Gegenwart und Dannys Vergangenheit. Rückblicke offenbaren, dass Steve kein Teufel in Menschengestalt war, dass er seinen Sohn durchaus behüten wollte, es schöne Momente gab. Gleichzeitig illustriert die Serie jedoch eindringlich, wie massiv der Vater seinen Sohn auf psychische Weise missbraucht und manipuliert, ihm seine Kindheit und Jugend geraubt hat.
„Somewhere Boy“ gelingt es allerdings nicht nur erzählerisch, sondern auch audiovisuell, Dannys turbulente Gefühlswelt zu vermitteln. Geschickt nutzen Alex Winckler und Alexandra Brodski, die bei jeweils vier Folgen Regie führten, fortlaufend die Tonspur: Geräusche schwellen zum Beispiel unvermittelt an oder klingen plötzlich merkwürdig verzerrt. Die Kamera rückt, besonders in der ersten Hälfte, oft sehr nah an das Gesicht des Hauptdarstellers heran und schafft so eine beunruhigende Intimität. Interessant und überraschend ist zudem das Spiel mit Licht und Farben. Das Haus von Danny und Steve strahlt in den Flashbacks mit seinen verbarrikadierten Fenstern etwas sehr Bedrückendes aus. Irgendwie wirken die Brauntöne und der schummrig-warme Lampenschein aber auch auf seltsame Art gemütlich. Im Kontrast dazu dominiert ein kühler Graustich die Bilder der Gegenwartsebene.
Unser Fazit zu „Somewhere Boy“:
Pete Jackson wagt sich an einen harten Stoff – und beweist großartiges Fingerspitzengefühl. Die erzählerischen Nuancen gepaart mit einer bemerkenswert durchdachten audiovisuellen Gestaltung machen „Somewhere Boy“ zu einer kleinen Perle im Streaming-Ozean. Das Tüpfelchen auf dem i ist die starke Darbietung von Lewis Gribben, aus dessen traurigen Augen so viel Schmerz, so viel Verunsicherung spricht. Der blasse, altmodisch gekleidete Danny hätte leicht zu einem eindimensionalen Freak verkommen können, ist allerdings spätestens mit der packenden letzten Folge eine beeindruckend vielschichtige Figur.
Christopher Diekhaus
Weitere Angaben
Filmtyp: Farbe