Sløborn (Staffel 1)
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„Ab jetzt ein bisschen Abstand halten“, heißt es an einer Stelle der von Christian Alvart („Tschiller: Off Duty“, „Halbe Brüder“, „Antikörper“) erdachten Katastrophenserie „Sløborn“. Ein Hinweis, der heute, in Zeiten von Corona, gang und gäbe ist. Während der Entstehung der Fernsehproduktion waren die Abstandsregeln jedoch noch kein Thema. Umso erstaunlicher, was für ein geradezu prophetisches Eskalationsszenario Showrunner Alvart und seine Koautoren entwerfen. Der Vergleich mit der Corona-Realität wird hier immer wieder herausfordert. Und wenn potenzielle Übertragungssituationen wie Niesattacken in Zeitlupe eingefangen werden, sieht man das heute sicherlich anders als noch vor einem Jahr.
Schauplatz der achtteiligen, vom ZDF in Auftrag gegebenen Serie ist die fiktive, im deutsch-dänischen Grenzgebiet liegende Nordseeinsel Sløborn, auf der – so bekräftigt es die 15-jährige Evelin zu Beginn – herzlich wenig los ist. Wie viele junge Leute leidet sie unter der provinziellen Enge und sehnt sich danach, ihren Heimatort und ihre Sorgen hinter sich zu lassen. Dass sie von ihrem Vertrauenslehrer schwanger ist, verschweigt sie ihren Eltern, deren Beziehung in einer Sackgasse feststeckt. Während Vater Richard ein reizvolles Jobangebot aus Berlin nicht ausschlagen will, steckt ihre Mutter Helena all ihre Kraft in ihre Arbeit als Tourismusbeauftragte. Weil die Erwachsenen mit sich und ihren eigenen Problemen kämpfen, muss Evelin mehrfach in die Bresche springen und sich um ihre jüngeren Brüder kümmern.
Zum Hauptpersonal von „Sløborn“ gehört auch der ständig gemobbte Außenseiter Hermann, der es seinem groben und autoritären Polizistenvater nie rechtmachen kann. Mit spürbarer Leidenschaft will sich der einst kriminelle Rückkehrer Magnus Fisker um eine Gruppe straffällig gewordener Teenager kümmern. Das unter seiner Regie anlaufende Projekt zur Wiedereingliederung, die gemeinsame Renovierung eines alten Wohnhauses, steht aber von Anfang an unter keinem guten Stern. Nicht nur innerhalb der Truppe kommt es schnell zu Auseinandersetzungen. Auch so manchem Insulaner sind die Gesetzesbrecher vor der Tür ein Dorn im Auge. In die Abgeschiedenheit Sløborns verschlägt es zudem den kreativ blockierten Bestsellerautor Nikolai Wagner, der seine Gastgeberin, die brave Buchhändlerin Merit Ponz, mit seinen Drogeneskapaden auf Trab hält.
Die Gefahr durch ein ebenso aggressives wie tödliches Virus, hier Taubengrippe genannt, deutet sich bereits in den ersten Folgen – etwa durch Nachrichtenfetzen – an. Serienschöpfer Alvart, der selbst vier Episoden in Szene setzte, taucht jedoch zunächst ausführlich in den Figuren- und Beziehungskosmos seines Inselsettings ein. Wie man es von dem begeisterten Spannungsfilmer kennt, scheut er dabei keineswegs Klischees und Überspitzungen. Besonders die gut gecasteten Jungdarsteller verleihen dem Geschehen allerdings eine erfrischende Note. Dass viele komplexe Themen (Schwangerschaftsabbruch, Mobbing, Resozialisierung und religiöser Fanatismus, um nur einige aufzuzählen) nicht erschöpfend behandelt werden können, wird spätestens in der zweiten Hälfte offensichtlich. Äußert geschickt baut die Serie aber von dem Moment an, in dem ein führerloses Segelboot mit zwei toten Infizierten an den Strand gespült wird, ein stetig wachsendes Klima der Bedrohung auf.
Wirkt der von Alexander Scheer hemmungslos überdreht gespielte, sich in einen Entzugswahn hineinsteigernde Schriftsteller anfangs wie ein lächerlicher Fremdkörper im Inselalltag, entpuppt er sich mehr und mehr als passender Vorbote der mit Folge sechs losbrechenden apokalyptischen Zustände. Nicht von ungefähr dichtet Alvart ausgerechnet ihm eine perfide Wandlung an. Die rabiate Art und Weise, wie sich die Anspannungen in den letzten Episoden entladen, folgt unübersehbar einer filmischen Katastrophenlogik. Mehr als einmal stellt man sich allerdings die Frage, was geschehen wäre, wenn die Bevölkerung im Frühjahr 2020 weniger zustimmend auf den Lockdown der Regierung reagiert hätte. Wäre vielleicht auch in der Realität ein martialischer Aufmarsch der Bundeswehr möglich gewesen?
Gegen Ende trägt „Sløborn“ zweifelsohne sehr dick auf und stellt die Chaoseffekte über den sauberen Abschluss einzelner Handlungsfäden. Die Geschichten mancher Figuren bleiben – womöglich bedingt durch die Hoffnung auf eine zweite Staffel – in der Luft hängen. Und im Wissen um die von Corona ausgelösten irrwitzigen Manipulationstheorien haben die verschwörerischen Anklänge einen seltsamen Beigeschmack. Gleichwohl gelingt Alvart und seinen Mitstreitern etwas, das in der deutschen Film- und Fernsehwelt nur selten vorkommt: Ihre Serie entwickelt auf der Zielgeraden eine ungeheure Intensität, findet wiederholt einprägsame Bilder für das Grauen und betreibt einen beachtlichen Ausstattungsaufwand, um die dramatische Krisenlage glaubhaft darzustellen.
Christopher Diekhaus
Weitere Angaben
Filmtyp: Farbe