Schwanengesang

Stell dir vor, bei dir wird eine tödliche Erkrankung festgestellt und du hast die Wahl: Entweder du stellst dich der Situation, sprichst mit deiner Familie darüber und es heißt langsam und schmerzhaft Abschied nehmen. Oder du sagst kein Wort, ziehst dich nur irgendwann still und heimlich zurück, während ein Klon unbemerkt deinen Platz einnimmt und dein Leben für dich weiterlebt, als wäre nie etwas gewesen. Womit deinen Liebsten all das Leid erspart bleibt – aber auch die Chance, einander Lebewohl zu sagen. Wofür würdest du dich entscheiden? Im Spielfilmdebüt „Schwanengesang“ des Oscar-prämierten Regisseurs und Drehbuchautors Benjamin Cleary dreht sich alles um genau diese eine Frage. Und sie wirkt trotz des dezent durchgestylten Science-Fiction-Szenarios erschreckend nah.
Was im Film „Schwanengesang“ passiert:
Nach der hoffnungslosen Krebs-Diagnose betrachtet der Produktdesigner Cameron sein Leben mit anderen Augen: All die wunderschönen Momente mit seiner Frau Poppy und seinem Sohn Cory werden ihm wieder bewusst – und wie wichtig ihm das alles ist. Auch wenn die letzten Jahre alles andere als einfach waren und sich Poppy nach dem tragischen Tod ihres Bruders mehr und mehr zurückgezogen hatte. Jetzt finden sie gerade erst wieder zueinander und er will nicht zulassen, dass sie noch mal in diese Dunkelheit stürzt. Also lässt er sich auf das außergewöhnliche Angebot von Dr. Jo Scott ein, die mit ihrem kleinen Team daran arbeitet, den Tod mithilfe geklonter Duplikate zu überwinden. Wenn es so weit ist, werden Camerons Erinnerungen an seinen Doppelgänger übertragen, sodass dieser problemlos an seine Stelle treten kann, während er selbst bis zu seinem Tod nur noch Zuschauer seines eigenen Lebens wird. Kein schöner Gedanke – und schon beim ersten Videotelefonat des Klons mit seiner Frau bekommt Cameron den Neid und die Angst zu spüren, die unmittelbar in ihm aufsteigen. Mehrfach ist er kurz davor, die ganze Aktion abzubrechen. Doch dann geraten die Dinge kurz außer Kontrolle und Cameron verliert die Entscheidungsgewalt.
Lohnt sich das Sci-Fi-Drama für mich?
Gar nicht so leicht zu entscheiden, ob und wie gut Clearlys „Schwanengesang“ jetzt eigentlich gefällt. Zwei große Stärken hat der Film zweifelsohne schon mal: Da ist zum einen die detailreich und zugleich absolut unaufdringlich gestaltete Zukunftsszenerie, die fast schon wie eine von Apple durchgestylte Version unserer Wirklichkeit erscheint. Und zum anderen die Ausstrahlung sowie das schauspielerische Feingefühl des Hauptdarstellers Mahershala Ali („Moonlight“, „Green Book“, „Alita: Battle Angel“), die uns hier einen tiefen Einblick in Camerons Gefühlschaos erlauben. Gemeinsam entfalten diese beiden Stärken eine solche Wirkung, dass es einfach ein ästhetischer Genuss ist, diesen Film zu sehen.
Davon ab macht es sich „Schwanengesang“ leider ein bisschen zu einfach bei einem Thema, das eine weitaus differenziertere Perspektive verdient. Denn mal ganz abgesehen davon, dass eine solche „Dienstleistung“ für Normalbürger:innen gar nicht finanzierbar wäre – auch nicht für einen halbwegs gut verdienenden Grafiker wie Cameron –, ist vor allem die ständig mitschwingende Silicon-Valley-Mentalität bedenklich, die sämtliche moralische Bedenken rein zweckmäßig auszuhebeln scheint. So dreht sich der Film vor allem darum, ob Cameron die Charakterstärke aufbringt, für das Wohl seiner Familie zurückzutreten. Ganz entscheidende Fragen werden hingegen ausgeklammert: Ist es überall sinnvoll und moralisch vertretbar, Menschen einfach so zu ersetzen, bloß um Verlustschmerzen zu vermeiden? Wo wollen wir im Zweifel die Grenze ziehen? Denn denken wir das Gedankenexperiment mal konsequent weiter: Was für Folgen hätte es, wenn wir plötzlich in einer Welt voller Klone leben und irgendwann gar nicht mehr wissen, ob überhaupt noch jemand der ursprüngliche Mensch ist? Im Grunde geht es hier also auch darum, ob wir in der echten Welt leben wollen mit all ihren Risiken – oder lieber in einer fiktionalen Welt, in der wir mehr Kontrolle haben. Oder zumindest den Anschein davon.
Unser Fazit zu „Schwanengesang“:
Der Ansatz des Films ist super spannend und macht auf jeden Fall nachdenklich. Schade nur, dass die inhaltliche Auseinandersetzung dann ein bisschen zu flach geraten ist.
Marius Hanke
Weitere Angaben
Filmtyp: Farbe