Luft

Ein zufälliger Zusammenstoß mitten im Wald, eine kaputte Brille, wenig später der Kuss einer Maskierten – und irgendwie ist es um Manja geschehen. Fasziniert schaut sie der Frau hinterher, die gerade mit gewagter Strategie einen Hirsch vor dem Schuss des Jägers gerettet hat und nun davoneilt. Und deren Mütze sie noch verträumt in der Hand hält, nachdem sie zu Boden gefallen ist. Sie kennt sie. Denn es ist Louk – „Crazy Louk“. Die junge Rebellin aus der Schule, die vor nichts und niemandem Angst hat und die von allen bewundert wird. Die auch nicht davor zurückschreckt, sich unter einen fahrenden Zug zu legen, um ihren Mut zu beweisen. Sie ist so anders als Manja, die wenig sagt und vielmehr zuhört. Zum Beispiel, wenn ihre Großmutter Geschichten erzählt oder wenn die Gespräche auf dem Schulhof an Fahrt aufnehmen. Doch mit dem Kuss und mit der Mütze ist auch ein Gefühl der Verbindung entstanden. Die beiden verbringen Zeit zusammen, kommen sich näher – auch wenn Manja manchmal eifersüchtig zusehen muss, wie Louk mit Typen herumknutscht. Zwischen ihnen ist mehr und das zeigt sich spätestens dann, als sie gemeinsam ans Meer aufbrechen, um sich ein für allemal von der Vergangenheit loszueisen.
„Luft“ ist der Abschlussfilm seines Regie-Studiums und zugleich das Kinodebüt von Anatol Schuster. Womit er direkt auf eindringliche Weise zeigt, dass er ein guter Beobachter und feinsinniger Erzähler ist – mit einem verträumten und fast schon märchenhaften Stil. Das macht Eindruck. Denn obwohl der Film seine Längen und Schwächen hat, so übt er doch eine große Faszinationskraft aus. Mit wunderschönen Bildern an versteckten Orten und einer Sinnlichkeit, der man nur selten begegnet. Erst recht, wenn wie hier zwei so gegensätzliche Charaktere aufeinandertreffen und sich zusammentun, um mit der Vergangenheit abzuschließen. Denn beide teilen dasselbe Trauma: von einem Elternteil, das davongelaufen ist, verlassen worden zu sein. Doch sie mussten irgendwie zurechtkommen und sie werden das auch weiterhin tun.
Auch wenn der Film den Blick vor allem auf die beiden richtet, bleibt trotzdem genügend „Luft“ für die Menschen um sie herum. Vor allem für Manjas Familie, mit einer Großmutter, deren ganzes Wesen Beständigkeit und Zusammenhalt verspricht. Und einer Schwester, die ganz für die Musik lebt und dafür so manchen Streit in Kauf nimmt. Und ohne die es wohl auch nicht die wiederkehrenden Akkordeon-Melodien gäbe, die uns auf zauberhafte Weise durch den Film tragen.
„Luft“ ist alles andere als ein schneller Film, sondern vielmehr einer für Menschen mit Geduld. Wenn wir die mitbringen, schenkt er uns eine kleine Pause vom Leben mit entrückt-schönen Momenten.
Marius Hanke