Glücklich wie Lazzaro
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In der ersten Hälfte des Films fühlt man sich mehrfach an das Geschichtsepos „1900“ von Bernardo Bertolucci und an andere italienische Filmklassiker des Neorealismus erinnert. Bewusst wurde der Film nicht etwa digital gedreht, sondern im alten Super-16-Format auf analogem Filmmaterial, das die Patina des Vergangenen unterstreicht. Da schuften Bauern in dem abgelegenen Bergdorf Inviolata in einer Art Leibeigenschaft ohne Unterlass für die Marchesa Alfonsina de Luna, die Königin der Zigaretten, und verschulden sich Jahr für Jahr immer stärker. Denn der Pachteintreiber der Gräfin verrechnet die eingefahrenen Gewinne stets mit angeblich erbrachten Leistungen, die stärker zu Buche schlagen. Dass der Film hier auf eine reale Begebenheit aus der jüngeren Vergangenheit zurückgreift, die als „Großer Betrug“ öffentlich bekannt wurde, erfährt man erst viel später im Film. Denn die Marchesa hatte den Landarbeitern einfach verschwiegen, dass der italienische Staat bereits 1982 alle Naturalpachtverträge und die mit ihnen verknüpften sklavenähnlichen Verhältnisse abgeschafft hatte.
In diesem Ort der gnadenlos Ausgebeuteten lebt der herzensgute Bauernjunge Lazzaro, benannt nach der biblischen Figur Lazarus. Ohne Murren erträgt er, dass die von oben gebeutelten Dorfbewohner den Druck nach unten weitergeben und ihn für nahezu jede Art von Dienstleistung heranziehen. Auch Tancredi, der Sohn der Gräfin, der offen gegen seine Mutter rebelliert, spannt ihn zunächst nur für eigene Zwecke ein. Lazarro soll ihn entführen, damit Tancredi Lösegeld von seiner eigenen Mutter erpressen kann. Alles entwickelt sich dann freilich anders als geplant. Lazarro und Tancredi freunden sich an und ihre Freundschaft überdauert sogar Jahrzehnte, als der wiederauferstandene und keine Spur gealterte Lazarro den Dorfbewohnern in der Großstadt erneut begegnet. Dort sind sie zwar von der Leibeigenschaft befreit, leben aber weiterhin am Rande der Gesellschaft.
Reguísseurin Alice Rohrwacher hat ihren dritten Spielfilm in enger Anlehnung an die Legende des Heiligen Lazarus inszeniert, mit ihrer Schwester Alba als weibliche Hauptfigur Antonia, die als einzige sofort an das Wunder der Wiederauferstehung glaubt. In einer unvergleichlichen Mischung aus präziser Gesellschaftskritik, poetisch-kontemplativem Märchen und biblischen Zitaten erzählt die Filmemacherin zugleich die Geschichte Italiens der letzten fünfzig Jahre. Auf einprägsame und anschauliche Weise bringt der Film komplexe Sachverhalte auf den Punkt, etwa wenn sich Arbeitssuchende gegenseitig unterbieten, um für einen Hungerlohn einen Job zu ergattern, oder wenn sakrale Musik aus der Kirche der Reichen entweicht und sich den Armen anschließt. Wie Lazarro verliert auch Rohrwacher dabei nie den Glauben an das Gute im Menschen. Absolut sehenswert!
Holger Twele
Weitere Angaben
Filmtyp: Farbe
Sprachen: Deutsch, Italienisch
Untertitel: Deutsch