Ghosts (Hayaletler)
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In ihrem Spielfilmdebüt „Ghosts“ schubst uns Filmemacherin Azra Deniz Okyay mitten hinein in ein vom Umbruch gezeichnetes Istanbul. Als unsichtbare Beobachter:innen begleiten wir für einen Tag das Leben in einem halb zerfallenen Viertel am Rand der Metropole. Ein kleines Abenteuer, das sich auch beim stillen Zuschauen sehr real anfühlt.
Was dich im Film „Ghosts“ erwartet:
Eigentlich hat Dilem genug von undankbaren Service-Jobs, bei denen ihr nicht mal der kleinste Moment der Freude gestattet wird. Doch sie braucht dringend Geld und mit ihrer Tanzkarriere geht es bislang noch nicht so voran wie gehofft – deswegen fragt sie direkt nach neuen Möglichkeiten, als ihre Arbeit im Hotel sich abrupt erledigt. Die Nachbarin Iffet hat da etwas an der Hand, was zumindest für den Moment hilft. Auch sie braucht Geld, weil ihr Sohn im Gefängnis sitzt und dort von seinen Zellengenossen erpresst wird. Niemand wollte ihr etwas leihen, außer Rasit, und dem kann man nicht trauen, seit er das Viertel verraten hat und gemeinsame Sache mit den Behörden macht. Aber wenn sie für den Dealer in der Nachbarschaft einen kleinen Kurierdienst an den Polizeiposten vorbei erledigt, könnte das ihre Probleme lösen. Sie will eigentlich nicht, doch anders geht es ja auch nicht. Und mit Dilem zusammen wird sie nicht weiter auffallen. Währenddessen macht eine Gruppe junger Aktivist:innen mit Protesten gegen die Diskriminierung von Frauen auf sich aufmerksam und versucht ein wenig Hoffnung in die perspektivlose Stadt zu bringen. Und Rasit? Der nutzt fleißig seine Beziehungen, um an allen Ecken und Enden des Viertels Geld zu verdienen und seinen Einfluss zu vergrößern. „Für die neue Türkei“ – nur eben auf Kosten anderer und mit einem äußerst großzügig ausgelegten Rechts- und Moralverständnis.
Ach ja: Der Tag, an dem wir Dilem und Co. begleiten, ist außerdem geprägt von einem landesweiten Stromausfall. Und dieser macht das Geschehen noch komplizierter als ohnehin schon.
Warum sich der Film auf jeden Fall lohnt:
Was Azra Deniz Okyay mit „Ghosts“ geschaffen hat, braucht eine Weile, um sich zu entfalten. Tanzen beim Saubermachen im fremden Hotelzimmer, verliebte Nachrichten mit dem Freund – dann Frust über den strengen Chef, Job schmeißen und wieder überlegen müssen, was jetzt. Zwischenzeitlich fühlt es sich fast an wie eine Reportage: Wir folgen Dilem einige Minuten lang, die Kamera wechselt auf eine andere Person und dieser Weg führt uns irgendwann wieder zu einem Knotenpunkt der Handlung zurück, womit sich das Bild hier neu zusammensetzt. Der Aufbau wirkt anfangs etwas holprig – doch mit der Zeit zeigen sich die Stärken dieser besonderen Erzählweise und die Story entblättert sich Schicht für Schicht auf eine Weise, die vollkommen schlüssig daherkommt. Sogar die eingestreuten Straßenszenerien im Hochformat fügen sich schließlich perfekt ins Bild ein.
Zugleich erzählt „Ghosts“ eine Geschichte über die Türkei, die vor allem von einem Gefühl geprägt ist: großer Unsicherheit. Diese ist in nahezu jeder Hinsicht zu spüren. Denn niemand hier weiß genau, wie es weitergehen wird. Es gilt, sich irgendwie durchzuboxen, sich seinen kleinen Platz in dieser Welt zu bewahren und vielleicht sogar ein klein wenig Glück zu spüren. Und auch etwas anderes macht der Film mehr als deutlich: Das sollte auf keinen Fall so bleiben.
Unser Fazit zu „Ghosts“:
Liebevoll setzt Okyay einzelne Puzzleteile zu einem goßen Bild zusammen. Genau das macht „Ghosts“ wirklich wundervoll. Und ebenfalls das regt zum Nachdenken an.
Marius Hanke
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