Gewalten
Der Film „Gewalten“ ist nichts für Ungeduldige. Nichts für Leute, denen es mit Wendungen und Actionszenen gar nicht schnell genug gehen kann. Regisseur und Drehbuchautor Constantin Hatz nimmt sich Zeit, sehr viel Zeit, verzichtet auf geläufige Dramatisierungen, will vor allem ein Gefühl durchdringender Hoffnungslosigkeit transportieren. Wie radikal er dabei vorgeht, verdeutlicht eine Szene ganz besonders: Als der Protagonist Daniel und sein Vater auf eine Uhr starren, warten wir mit ihnen eine geschlagene Minute lang – ohne dass irgendetwas passieren würde.
Worum es in dem Drama „Gewalten“ geht:
Der 14-jährige Daniel wohnt in einem heruntergekommenen Dorf, das nur noch vor sich hinzuvegetieren scheint. Die wenigen Menschen um ihn herum sind kaltherzig und versuchen, die Leere mit Gewalt auszufüllen. Wenn ihre Körper aufeinanderprallen, wirken sie für einen kurzen Augenblick lebendig. Während Daniels älterer Bruder ständig Gewichte stemmt, kümmert sich der sensible Teenager um seinen schwerkranken Vater. Eines Tages begegnet der naturverbundene Junge dem Außenseiter Marcel, der nach vielen Jahren der Abwesenheit in seinen Heimatort zurückgefunden hat. Heute hält Marcel sich mit Hundekämpfen über Wasser und gesteht Daniel, dass auch er die Stille des Waldes genießt.
Was „Gewalten“ zu einem ungewöhnlichen Seherlebnis macht:
Zweifellos vermag Constantin Hatz es, die Stimmung des Filmsettings auf das Publikum zu übertragen. Die Zeit im Dorf steht förmlich still – sagen uns die langen, fast immer statischen Einstellungen. Perspektiven gibt es im Grunde keine – vermitteln die trostlosen Bilder. Den kahlen Innenräumen fehlt jede Gemütlichkeit. Gesprochen wird nur das Nötigste. Selbst Daniels Hahn will einfach nicht krähen. Dass zum Einstieg minutenlang kein einziges Wort fällt, ist bezeichnend für den Schauplatz, aus dem, wie es an einer Stelle heißt, die meisten Leute geflohen sind. Warum – das klärt „Gewalten“ nie richtig auf. Überhaupt bleiben einige Dinge nebulös. Wo genau befinden wir uns? Die Autokennzeichen sehen seltsam fremd aus. Wann spielt das Ganze? Vieles fühlt sich altmodisch an. Smartphones oder andere moderne Geräte scheinen nicht zu existieren.
In all die Depression und Düsternis stellt der Regisseur mit Daniel eine Figur, die tatsächlich nach Zuneigung sucht und sich von der vorherrschenden Grausamkeit nicht anstecken lassen will. Erstaunlicherweise schafft es der Junge immer wieder, die Fassung zu bewahren, obwohl er zahlreiche erschütternde Beobachtungen macht. Sein Fluchtpunkt ist die Natur, der Waldboden, auf den er sich mit nacktem Oberkörper legt, um die Ruhe, den Frieden in sich aufzusaugen. Doch wie lange hält der Panzer? Schafft es Daniel, der seinen Platz in der Welt noch nicht gefunden hat, die Brutalität von sich abzuweisen?
„Gewalten“ ist ein herausforderndes Drama – und sicherlich nicht frei von Schwächen. Die fast zweieinhalbstündige Laufzeit sprengt den Rahmen. Manche Dialoge klingen zu gestelzt. Verwirrung stiftet außerdem eine oft in Reimen sprechende Frau namens Erika, die Daniels Vater ab und an Gesellschaft leistet. Ebenfalls schade ist es, wie abrupt Neuankömmling Karim, zu dem der Protagonist ein Vertrauensverhältnis aufbaut, wieder aus der Handlung herausbefördert wird. All das verhindert aber nicht, dass eine ungewöhnliche Form von Spannung entsteht. Daniels Weg durch den bitteren Alltag ist fesselnd – zumindest dann, wenn man sich auf die langsame Erzählweise und die konsequent schmucklose Gestaltung einlassen kann.
Christopher Diekhaus