Die langen hellen Tage

Tblilissi in Georgien, 1992 nach dem Ende der Sowjetunion. In der Provinz Abchasien herrscht Bürgerkrieg, das Land steht vor dem Zusammenbruch, die Versorgungslage ist angespannt, für einen Laib Brot muss man lange anstehen und das, obwohl auf den Straßen niemand mehr sicher ist. Umso wichtiger ist den beiden 14-jährigen Schülerinnen Natia und Eka ihre Freundschaft. Denn auch privat gibt es eine Reihe von Problemen. Eka wächst ohne ihren Vater auf, der im Gefängnis sitzt, und versucht sich gegen die überfürsorgliche Mutter zu behaupten. Natia wiederum leidet unter ihrem trunksüchtigen Vater und dessen Gewaltausbrüchen gegen die ganze Familie. Die Freundschaft der Mädchen wird auf eine harte Probe gestellt, als Natia auf offener Straße von einem Verehrer entführt wird, den sie nach alter georgischer Tradition schließlich heiratet, obwohl sie eigentlich in einen anderen Jungen verliebt ist.

Die in Tbilissi (Tiblis) geborene Filmemacherin Nana Ekvtimishvili, eine Absolventin der HFF in Potsdam-Babelsberg, war 1992 genauso alt wie die beiden Protagonistinnen ihres Debütfilms. Sie hat ihn zusammen mit dem gebürtigen Berliner Simon Groß an Originalschauplätzen in ihrer alten Heimat und nach ihren eigenen Erfahrungen aus der Kindheit gedreht. Seine gefeierte Erstaufführung hatte der vom ZDF – Das kleine Fernsehspiel koproduzierte Film 2012 im Forum der Internationalen Filmfestspiele von Berlin. Mit seinen leicht farbstichigen Bildern, die Assoziationen an verblassende Erinnerungen wecken, und durch gezielte Lichtsetzung entsteht ein zwischen Melancholie und Hoffnung oszillierender Gesamteindruck, mit dem das Regieduo unmittelbar an die in der postsowjetischen Ära teils verschüttet gegangenen Traditionen des georgischen Kinos anknüpft. In diesem Kino vermischen sich Bilder voller Poesie und Schönheit mit Bildern des Schreckens, der Gewalt und der kleinen und großen menschlichen Tragödien zu einer Stimmungslage, die alle Lebensbereiche erfasst und durchdringt. Ein visuell eindringlicher Film also über zwei 14-Jährige in einer von alten patriarchischen Traditionen beherrschten und in Auflösung begriffenen Gesellschaft, die sich nicht unterkriegen lassen und die langen hellen Tage als Hoffnungsschimmer in ihren Herzen bewahren.

Holger Twele