In den Gängen
Ziemlich am Schluss der 68. Berlinale, als sich alle schon gedanklich auf die Preisverleihung einstimmten und die Kritik glaubte, die wichtigsten Filme bereits gesehen zu haben, wartete die Festivalleitung noch mit einem Kleinod im Wettbewerb auf: mit dem deutschen Beitrag „In den Gängen“. Thomas Stubers neuer Film kommt ganz still und unspektakulär daher und besticht auf eine ungewöhnliche Weise. Basierend auf der gleichnamigen Erzählung des Leipziger Schriftstellers und Drehbuchautors Clemens Meyer, mit dem Stuber u. a. das Drehbuch für seinen Kinofilm „Herbert“ verfasst hat, wird hier die Geschichte dreier „verlorener“ Menschen in einem Großmarkt irgendwo in der ostdeutschen Provinz erzählt. Im Vorspann erscheint der riesige Parkplatz am frühen Morgen, menschenleer, danach die Gänge im Markt mit den bis hoch zur Decke ragenden, voll gestapelten Regalen. Noch ist es dunkel, dann geht langsam Licht für Licht an, fährt der erste Gabelstapler durch die Großmarktfluchten, der zweite, der dritte. Dazu der Walzer von Johann Strauß „An der schönen blauen Donau“. Der erste Satz nach dem Titel lautet: „Wir duzen uns hier alle“. Eine bessere Einstimmung auf das Kommende kann es eigentlich nicht geben. Christian, der wegen verschiedener Raubüberfälle im Knast gesessen hat, soll hier eingestellt werden. Rudi, der Chef, teilt ihm die Erstausstattung in Form von einem Arbeitskittel, vier Kugelschreibern, einem Namensschild und einem Cutter zu und bringt den Neuen zu Bruno aus der Getränkeabteilung. Bruno soll ihn einarbeiten und sich um Christian kümmern. Obwohl der Neue kaum ein Wort spricht, nehmen ihn seine Kollegen, sei es Paletten-Klaus, die ewig hustende Irina oder der gutmütige Jürgen vom Eingang, schon bald in ihr Team auf, während Bruno ihm zu einem väterlichen Freund und Ratgeber wird. Er führt Christian in die Gepflogenheiten dieser ganz eigenen Arbeitswelt ein, die sich hauptsächlich in den engen Gängen des Großmarktes abspielt und erst endet, wenn es draußen schon dunkel ist. Dann begegnet Christian der kessen Marion von den Süßwaren, lässt sich von ihr mit dem Gabelstapler anrempeln und „Frischling“ nennen. Findet ein silbernes Haargummi von ihr und verliebt sich in sie. Doch Marion ist verheiratet. Unglücklich, wie die Kollegen meinen. Sie nehmen Anteil an seinen Gefühlen für die Kollegin und ermahnen ihn, „ihr nicht weh zu tun“. Ganz vorsichtig nähern sich die beiden an. Mal ist es ein Blick, dann ein Becher Kaffee aus dem Automaten, den Christian spendiert, ein „Yes“-Törtchen mit Kerze zum Geburtstag im Aufenthaltsraum, bis er Marion bei der Weihnachtsfeier auf der Laderampe von seiner Vorgeschichte erzählt. Im Januar kann Christian sie nicht mehr in den Gängen treffen. Marion ist krankgeschrieben, heißt es, und dass ihr Mann ein Arschloch sei. Für Christian bricht eine Welt zusammen und sein altes Leben scheint ihn wieder einzuholen. Aber auch Bruno trägt ein Geheimnis mit sich herum, das ihm irgendwann die Beine weghauen kann.
So wie im schummrigen Licht des Großmarktes die Konturen etwas verschwimmen, so lassen auch Thomas Stuber und Clemens Meyer ihre drei Hauptfiguren immer ein Stück im Dunklen. Ihre Schicksale und inneren Geheimnisse werden nicht auserzählt, nur vorsichtig angedeutet. Der Zuschauer wird in die Pflicht genommen, kann und muss seine Fantasie spielen lassen und wird in die Geschichte förmlich hineingezogen. Bei aller Trostlosigkeit fängt Kameramann Peter Matjasko Bilder voller Poesie ein, zaubert Kai Tebbel einen magischen, stimmungsvollen Sound, abgesehen von dem eindrucksvollen Spiel der Haupt- und Nebendarsteller. Ob „European Shooting Star“ Franz Rogowski (Transit, Love Steaks, Victoria, Fikkefuchs), der hier einen in sich gekehrten, auf den ersten Blick völlig verklemmt scheinenden Christian spielt, oder die Europäische Filmpreis-Trägerin Sandra Hüller (Requiem, Toni Erdmann), die ihre Süßwaren-Marion so frech und witzig, dann aber auch ganz zerbrechlich erscheinen lässt, oder aber Peter Kurth, der nach der preisgekrönten Darstellung des Titelhelden in Herbert nun den sympathischen Kollegen Bruno gibt, mal Vaterfigur, mal unendlich traurig und einsam. Es ist dieses sensible, kunstvolle Zusammenspiel aller Gewerke, die diesen Film zu etwas ganz Besonderem werden lassen.
Barbara Felsmann
Weitere Angaben
Filmtyp: Farbe
Sprachen: Deutsch
Untertitel: Englisch, Französisch